Sonntag, 23. September 2018. Deosai, wir kommen! Heute ist es soweit, unsere Reise geht weiter. Nach zehn Tagen verlassen wir das Skardu Guesthouse. Mit einem weinenden Auge, weil uns die Jungs echt ans Herz gewachsen sind, aber das lachende Auge überwiegt. Wir können es kaum erwarten, endlich wieder Motorrad zu fahren. Wollen mehr von Pakistan sehen und schauen, ob die Leute anderswo auch so gastfreundlich sind. Vielleicht hatten wir ja bisher einfach Glück?
Zu unserer Verabschiedung ist das Guesthouse-Team vollzählig erschienen. Wir bekommen jede Menge guter Wünsche mit auf den Weg und posieren für zig Abschiedsfotos, weil natürlich jeder mit seinem eigenen Handy eins machen möchte. Nochmal ein herzliches Schuk-Ria (Dankeschön) an Hashmi, Raza, Ahmed und die anderen – wir haben unsere Zeit bei euch sehr genossen.
Auf nach Deosai, das „Land der Riesen“
Es ist schon fast elf Uhr, als wir endlich die Mopeds starten. Ein letztes Mal fahren wir die gewohnte Hauptstraße entlang, nehmen die Alltags-Atmosphäre in uns auf und biegen dann in einen unscheinbaren Weg ab, den unsere Navis in trauter Einigkeit als Straße zum Deosai Nationalpark identifiziert haben. Für eine der Hauptattraktionen in Gilgit-Baltistan hätten wir zumindest einen Wegweiser erwartet, aber scheinbar wissen die Leute hier, wo sie lang müssen.
Deosai ist Urdu und bedeutet übersetzt „Land der Riesen“, wobei mir bisher keiner sagen konnte, woher diese Bezeichnung kommt. Wegen der hohen Berge? Der Weite? Den Bären? Keine Ahnung… Jedenfalls liegt der Nationalpark auf durchschnittlich 4.114 Metern Höhe und gilt damit nach dem „Dach der Welt“ im Tibet als zweithöchstes Hochplateau der Welt. Er wurde 1993 zum Schutz der gefährdeten Himalaya-Braunbären ins Leben gerufen und umfasst eine Fläche von rund dreitausend Quadratkilometern. Da die Bären Menschen eher meiden, werden wir wohl keinen zu Gesicht bekommen, aber wir sind auch so total gespannt – zumal das auf unserer Reise wohl die letzte Gelegenheit sein wird, die richtig hohen Berge so hautnah zu erleben.
Wer unsere Route im Kopf hat, wird sich über diese Aussage vielleicht wundern, denn Indien und Nepal und damit die höchsten Pässe der Welt liegen doch noch vor uns? Stimmt, aber auf Reisen lernt man schnell, dass die eigenen Pläne bisweilen eine recht kurze Halbwertzeit haben. Der völlig unerwartete Strich durch unsere Himalaya-Planung kam diese Woche quasi von oberster Stelle – in Form von kalten, weißen Flocken.
Du planst – und dann reicht dir das Leben grinsend den Rotstift
Die meisten aus unserer China-Gruppe sind nämlich schon in Indien und versorgen uns via Facebook mit aktuellen Fotos und Infos. Vor ein paar Tagen dann die schlechte Nachricht: Die hohen Pässe im Ladakh haben schon Wintersperre! Kein Durchkommen mehr – und das Mitte September. Ungläubiges Staunen und kollektiver Frust im Gruppenchat sind die Folge, denn der Leh-Manali-Highway stand bei allen auf dem Plan.
Der wohl früheste Wintereinbruch seit 24 Jahren hat die Gegend im wahrsten Sinne des Wortes eiskalt erwischt, vor allem diejenigen, die schon dort oder auf dem Weg dahin sind. Einige konnten Khardung La und Co. mit viel Bibbern und Bangen gerade noch überqueren, bevor die Pässe für den Rest des Jahres gesperrt wurden, andere müssen jetzt die weite Strecke über Srinagar und Jammu wieder zurückfahren ins indische Flachland.
Und wir? Streichen nach dem tadschikischen Teil des Pamir schweren Herzens eine weitere Region, die ein Highlight unserer Reise hätte werden sollen. Ladakh, wir besuchen dich ein anderes Mal, versprochen! Aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben und wer weiß, wofür es gut ist? Zumindest ist jetzt der ungeplant lange Aufenthalt in Skardu ausgeglichen und wir liegen wieder gut in der Zeit.
Indian Summer im Deosai Nationalpark
Die schlechte Teerstraße führt durch einen für uns ganz neuen Teil von Skardu, bis die Wohnhäuser schließlich einer Art Industriegebiet Platz machen. Wir befinden uns unterhalb des Sadpara Stausees, deswegen ordnen wir einen Großteil der Industrieanlagen als Wasserkraftwerk ein. Ein paar Kehren weiter sind wir auf Höhe der Staumauer und der schmale, langgezogene See breitet sich inmitten der kargen Landschaft vor uns aus. Dahinter kommt tatsächlich noch ein Dorf – total erstaunlich, wo hier noch überall Menschen leben.
Und dann stehen wir am Eingang zum Nationalpark, wo neben dem Eintrag ins obligatorische Buch auch die Nationalparkgebühr fällig ist. Wie üblich zahlen ausländische Touristen viel mehr als einheimische Besucher. Aber das wird offen und ehrlich per Schild kommuniziert, von daher ist es für uns okay.
Nach der Schranke geht es stetig bergauf. Unsere Umgebung ist felsig, aber überraschend farbenprächtig. Die wenigen Bäume tragen herbstliches Gelb oder Rot, die bodennahen Pflanzen verschiedene Grün-Schattierungen, aber auch Gelb, Ocker oder Braun. So stelle ich mir Indian Summer im Hochgebirge vor.
Almabtrieb auf pakistanisch, zicken tut nur meine Basic
Ralf fährt um eine Kurve außer Sicht und reißt mich per Helmfunk aus meinen Landschaftsbetrachtungen: „Mach deine Kamera startklar, gleich kommen ein paar tolle Motive um die Ecke.“ Gesagt, getan, ich fahre langsam um besagte Kurve, sehe Ralf weiter oben am Straßenrand stehen und bin auf einmal mittendrin im „Almabtrieb“ auf pakistanisch. Einer der Schäfer spricht kurz mit Ralf, die anderen winken fröhlich und schauen, dass keins der schlanken, langbeinigen Schafe verloren geht. Es dauert eine ganze Weile, bis der Tross an uns vorbei ist.
Als ich die Basic wieder starten will, höre ich nur Klack, klack, klack. Mist, habe ich etwa vor lauter Gucken und Fotografieren die Zündung angelassen? Nee, Zündung ist aus, obwohl ich mich ehrlicherweise nicht erinnern kann, wann genau ich sie ausgeschaltet hab. Bestimmt zu spät, mutmaßt Ralf, aber ich wundere mich trotzdem, denn normalerweise kann die Basic damit umgehen, dass die Zündung im Stand mal ne Weile an bleibt.
Gut, dass es bergauf geht. Also Moped drehen, anrollen lassen und sie springt brav wieder an. Glück gehabt! Sicherheitshalber fahre ich ohne Licht weiter – und hoffe, dass sich da kein ernsthaftes Problem anbahnt. Immerhin sind wir auf dem Weg in einen Nationalpark ohne jegliche Infrastruktur und der nächste richtige Ort kommt erst in ca. 150 Kilometern. Definitiv kein guter Ort für einen technischen Defekt.
Weil Schwarzmalerei erstens nicht meine Art ist und zweitens noch niemanden weitergebracht hat, schiebe ich die unangenehmen Gedanken beiseite und konzentriere mich wieder auf die Straße. Die ist bis auf gelegentliche Auswaschungen und Steinschlag-Überbleibsel gut zu fahren, wird aber im weiteren Verlauf immer steiler. Um den Motor bei Laune zu halten, fahre ich mit etwas höherer Drehzahl als üblich. Abwürgen wäre blöd, hier möchte ich das Moped nicht drehen müssen.
Unerwartete Begegnung im Nirgendwo
Es ist schon fast 13 Uhr und das Navi zeigt längst über 4.000 Meter. Zwar sind wir immer noch nicht auf der eigentlichen Hochebene, aber schon jetzt total geflasht von der kargen, herbstlich bunten Landschaft hier oben. Eine solche Farbenpracht haben wir oberhalb der Baumgrenze nicht erwartet, dazu dieser weite Blick. Sogar die Sonne kommt raus und in das dramatische Grau des Himmels mischt sich mehr und mehr Blau. Im Hintergrund die schneebedeckten Berge – einfach nur wow!
Wir haben seit den Schäfern keinen Menschen mehr gesehen, aber irgendwann taucht in der Ferne ein weißer Kastenwagen auf. Das Auto kommt näher und entpuppt sich als Pickup mit Selfmade-Wohnaufbau. Hier oben hätten wir nie damit gerechnet, einen anderen Reisenden zu treffen. Und auch noch einen Deutschen. Josef kommt aus der Oberpfalz und ist auf dem Rückweg von Indien nach Hause. Wir quatschen bestimmt eine Stunde lang, bevor wir weiterfahren, er nach Skardu, wir Richtung Astore.
Nun haben wir es fast ein bisschen eilig, denn der Nachmittag schreitet voran und es sind noch ca. 100 Kilometer bis Astore. Auf über 4.000 Metern Höhe übernachten möchten wir nicht, auch wenn wir die Weite und das scheinbare Nichts sehr genießen. So frei gefühlt habe ich mich zuletzt in der Mongolei.
Die Fotos zeigen ganz gut, wie abwechslungsreich der Deosai Nationalpark ist, obwohl auf der Höhe ja kaum etwas wächst. Früher im Jahr ist das ganze Gelb-Orange-Braun vermutlich Grün, was sicher auch seinen Reiz hat:
Der Sheosar Lake markiert, aus unserer Richtung gesehen, das Ende des Deosai Nationalparks. Ein guter Platz für eine Pause, bevor wir die ca. 70 Kilometer bergab bis Astore in Angriff nehmen. Aber erstens sind dort tatsächlich ein paar pakistanische Autotouristen und zweitens haben wir ein Stück weiter oben fast freien Blick auf den Nanga Parbat, den mit 8.125 Metern neunthöchsten Berg der Welt. Und das ist natürlich schwer zu toppen. Also genießen wir eine einsame Pause mit Bergblick.
Der Nanga Parbat gilt als sehr schwierig zu besteigen und es kommt vergleichsweise häufig zu tödlichen Unfällen. Deswegen nennen ihn die Einheimischen auch „Killer Mountain“. Wir finden ihn einfach nur imposant.
Auf Wiedersehen, Deosai – willkommen Astore Valley
Wir schauen nochmal zurück zum Sheosar Lake und können die letzten paar Stunden immer noch nicht so ganz fassen. Was für eine Hammerlandschaft! Was für ein Traumwetter! Wenn ich da an die Geschichten der anderen aus der China-Gruppe denke, die teilweise von Schneeregen und fetter Nebelsuppe berichtet haben… Aber manchmal muss man einfach Glück haben und so ein Tag ist heute. Sogar die Basic läuft wieder normal, auch wenn ich kein Risiko eingehe und das Licht nur fürs Foto mal kurz an mache. Hier geht es sowieso ohne.
Der Weg runter ins Astore Valley ist ebenfalls klasse, weil wir noch ein ganzes Stück mit Blick auf den Nanga Parbat fahren. Es geht in malerischen, wenig anspruchsvollen Schotterkehren bergab und so können wir nach Herzenslust schauen und genießen. Ein paar geröllhaltige Wasserläufe brauchen etwas mehr Aufmerksamkeit, wenig später mischt sich der Schotter mit aufgerissenem Teer und irgendwann ist die Straße schließlich wieder komplett geteert.
Noch kurz am Checkpoint „ausstempeln“, also wieder mal unsere Passdaten in das unvermeidliche dicke Buch eintragen lassen, was diesmal echt lange dauert. Was machen die Jungs bloss mit unseren Pässen? *seufz* Letztendlich bekommen wir die Pässe wieder, versichern noch, dass wir auf keinen Fall vorhaben, nach Minimarg zu fahren – streng verboten! – und lenken die Mopeds unter strengen Blicken der Militärpolizisten auch wirklich Richtung Astore. Über Minimarg wären wir zwar sehr schnell, aber natürlich illegal in Indien und da hätten wir dann vermutlich auch nur Probleme.
Der Weg durchs Astore Valley ist zwar geteert, zieht sich aber ganz schön, weil wir nur langsam vorwärts kommen. Mal haben wir einen LKW vor uns, den wir ewig nicht überholen können, mal einen Hirten mit ein paar Kühen oder Schafen. Dann wieder eine Baustelle, wo es nur im Schneckentempo vorbei geht. An und für sich alles kein Beinbruch, aber in der Summe sorgen die Mini-Verzögerungen dafür, dass es schon dämmert, als wir endlich in Astore ankommen.
Der steilste Hang ever…
Wir hatten im Vorfeld recherchiert, dass das PDC Hotel in Rama Meadows etwas außerhalb von Astore wohl am ehesten westlichen Hygienemaßstäben genügt, aber unsere Navis sind sich nicht einig, wie wir dorthin kommen. Schließlich biegt Ralf in eine kleine Gasse ab und es geht stetig bergauf. Nach einer Weile sind wir sicher, dass wir hier falsch sind, aber der Weg ist nicht nur schmal, sondern der steilste, den ich in meinem Leben bisher gefahren bin. Zu allem Überfluss ist es auch noch glitschig, weil in der Mitte ein kleines Rinnsal den Berg hinunter läuft. Aber wir sind noch im Dorf, links eine Mauer, rechts Häuser.
Die Basics wühlen sich im ersten Gang den Berg hoch und ich habe echt ein mulmiges Gefühl. Ralf schlägt mehrfach vor, doch zu drehen, aber wie denn? Wo denn? Ich traue mir nicht mal zu, sicher anzuhalten bei der Steigung. Also am Gas bleiben und weiter. Dann passiert es – Ralfs Hinterrad rutscht auf dem glitschigen Untergrund weg, er knallt mit dem Kopf gegen die Mauer und stürzt. Obwohl er mir gleich versichert, dass er okay ist, werde ich leicht panisch, nehme Gas weg und würge natürlich den Motor ab. Meine Basic rutscht ein paar Meter nach hinten, bevor ich wirklich zum Stehen komme – zum Glück immer noch auf dem Moped sitzend. Aber so kann ich Ralf auch nicht helfen, denn ans Abstellen meiner Basic ist nicht zu denken. Sie steht nur, weil ich noch drauf sitze und alle Bremsen betätige.
Zum Glück tauchen aus den umliegenden Häusern ein paar Männer auf, die Ralf helfen, sein Moped wieder aufzuheben und in die Spur zu bringen.
Sie sind gerade dabei, es mit vereinten Kräften zu drehen, damit wir den Berg wieder runterfahren können, als ein anderer Typ auf einem kleinen Moped vorbeikommt. Er spricht ein bisschen Englisch und meint, es sei nicht mehr weit, wir seien fast schon auf dem richtigen Weg nach Rama Meadows. Dieser steile Weg sei nur eine Abkürzung und zurück würde viel länger dauern. Also werden erst Ralf und dann ich angeschoben, weil jeder Anfahrversuch bei der Mördersteigung dazu führt, dass bei unseren voll beladenen Basics einfach nur die Reifen durchdrehen. Aber mit Anschieben klappt’s und wir würden am liebsten den Boden küssen, als wir wieder auf dem richtigen Weg sind – eine normal breite Naturstraße, die sich in lockeren Serpentinen den Berg hoch windet.
Unser Führer muss rechts abbiegen, verabschiedet sich und meint, wir müssten einfach nur noch der Straße folgen. Laut Navi sind es noch ca. sieben Kilometer bis Rama Meadows, mittlerweile ist es stockdunkel und wir haben echt keine Lust mehr. Da sehen wir eine Leuchtreklame HOTEL – egal, was das für ein Schuppen ist, hier bleiben wir heute Nacht.
Wir hätten es schlechter treffen können, denn das vermeintliche Hotel ist eigentlich ein Homestay mit drei Zimmern, von denen wir uns eins aussuchen dürfen. Wirklich sauber ist keins, aber zwei von drei riechen auch noch muffig, also nehmen wir das dritte und ignorieren den Dreck. Wir nutzen eh unsere eigenen Schlafsäcke. Zumindest sind die Leute nett: Der Sohn des Hauses (gefühlt 12 Jahre alt) spricht ein bisschen Englisch und fährt sogar noch auf seinem alten Motorrad runter nach Astore, um für uns etwas zu essen zu holen. Was wollen wir mehr?
Ein ereignisreicher Tag, der uns von himmelhoch jauchzend bis echt panisch alle Emotionen beschert hat, die man gemeinhin mit einem Abenteuer assoziiert. Und wie immer wird am Ende doch noch alles gut 🙂
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Hier geht es zu den anderen Teilen unserer Reise durch Pakistan:
Pakistan, Teil 1: Unterwegs auf dem Karakorum Highway
Pakistan Teil 2: in Skardu, um Skardu und um Skardu herum
Ich schwelge gerade in Erinnerungen, Desai-Hochebene im Oktober 2019 auf einer „GS“ – einer Suzuki 150 GS – vom Reiseveranstalter Karakorambikers.com aus Gilgit/Baltistan. Mit „Vergnügen“ habe ich von eurer Auffahrt zu dem Rama Meadows gelesen, die Wege sind wirklich schlecht und steil…mitten im Ort hat die Motorkraft meiner 150-er nicht gereicht um die Steigung zu überwinden, Schiebehilfe gab es dankenswerter Weise .
Und ich denke mal ohne Anmeldung in dem PTDC-motel hättet ihr auch keine besonders gute Karten gehabt, alles schon mit großem Reparaturstau seit dem Wegbleiben der Touristen als Folge von 9-11 in Amerika.
Schön zu lesen eure Beiträge.
Hallo Jürgen,
da warst du ein Jahr später da als wir… und ich würd sofort wieder hinfahren *träum* Pakistan ist ein tolles Land. Wie bist du darauf gekommen, das mit einem Reiseveranstalter zu machen?
Gruß Birgit